Barenboim begeisterte mit Herz und Hirn
Das 1999 von Barenboim gegründete West-Eastern Divan Orchestra ist gleichermaßen ein Friedens- und Jugendprojekt: Die Musiker sind junge Israelis und Araber, die über die gemeinsame künstlerische Arbeit zu einem intensiven Austausch finden. “Kultur allein kann sicher keine Lösung bringen, aber wir sind immerhin 105 Musiker, Menschen, die eine gemeinsame Leidenschaft teilen”, warb Barenboim am Vortag bei einem “Terrassen-Talk” der Festspiele. Vor allem aber schafft es der 1942 in Buenos Aires geborene Charismatiker, der 1965 als Pianist und 1990 als Dirigent bei den Salzburger Festspielen debütierte, die Jugendlichen zu begeistern. Der Zugriff auf das keineswegs leichte Programm war jedenfalls erfrischend direkt.
Claude Debussys durch Nijnskys Choreografie berühmt gewordene “Prélude à l’après-midi d’un faune”, ein nur wenige Minuten kurzes Meisterwerk des musikalischen Impressionismus, bot einen zart hingehauchten, verspielten Auftakt, der allerdings von einer fast ebenso langen Umbau-Choreografie der Orchesterwarte abgelöst wurde, ehe das erste Hauptstück des Abends folgte.
Für Pierre Boulez’ “Dérive 2 pour onze instruments” brauchte man titelgemäß nur elf Musiker. Umrahmt von Marimba und Vibraphon, Klavier und Harfe widmete sich ein Mini-Ensemble aus Streichern und Bläsern dieser kompositorischen “Forschungsarbeit über die Periodizität”. Wie das bei Forschung so ist, muss das nicht notwendigerweise in jedem Augenblick spannend sein. So hatte das mehrfach umgearbeitete und erweiterte Werk auch so manche Länge, bei der akribisch das Geforderte durchbuchstabiert wurde. Doch für die eine oder andere Kopflastigkeit wurde man durch humoristische Passagen entschädigt, in denen sich ein lockerer Dialog der Instrumente entwickelte.
Boulez ist anlässlich seines 90ers, den der große Dirigent und Komponist im März gefeiert hat, in Salzburg zu Recht ein kleiner Schwerpunkt gewidmet, an dem sich Barenboim und das West-Eastern Divan Orchestra heute bei einem Kammerkonzert in der Stiftung Mozarteum auch noch mit dem Boulez-Stück “sur Incises” beteiligen werden. Die emotionale Seite von seiner Musik werde heute noch zu wenig gesehen, hatte Barenboim am Vortag erläutert. Dabei habe es Boulez “geschafft, mit dem Kopf zu fühlen und mit dem Herzen zu denken”.
Viel Herz war dann nach der Pause bei Tschaikowskis Symphonie Nr. 4 f-Moll op. 36 zu spüren. Mal hoch dramatisch, mal von ansteckender Heiterkeit präsentierte sich das Werk in allen Farben. Barenboim betonte die großen Bögen, ohne auf filigrane Feinheiten zu verzichten. Mit Hingabe widmete sich seine junge Truppe den zärtlichsten Pizzicati und den mächtigsten Becken-Schlägen. Ein großes Finale, das ausgiebig bejubelt wurde. Zwei Zugaben folgten sowie die Erkenntnis, dass die Welt noch nicht verloren sein kann. Der Glaube daran lebt jedenfalls.