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Brunnenmarkt-Attacke: Das Fazit der Sonderkommission

Der Fall Francis N. legte schwere Vernetzungsprobleme zwischen den Behöreden offen.
Der Fall Francis N. legte schwere Vernetzungsprobleme zwischen den Behöreden offen. ©APA/Roland Schlager
14 Monate nachdem ein psychisch hochgradig gestörter Kenianer auf dem Brunnenmarkt eine 54-jährige Frau auf dem Weg zur Arbeit mit einer Eisenstange erschlug, hat die eingesetzte Sonderkommission ihren Bericht zum Versagen der Behörden präsentiert.
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Im Mai 2016 erschlug ein psychisch kranker, vorbestrafter und von der Justiz zur Aufenthaltsermittlung ausgeschriebener Täter am Wiener Brunnenmarkt eine 54-jährige Frau auf dem Weg zu ihrer Arbeit mit einer elfeineinhalb Kilogramm schweren Eisenstange. Eine von Justizminister Wolfgang Brandstetter eingerichtete Soko hat den Fall evaluiert, am Dienstag wurden die Erkenntnisse präsentiert.

“Es wurde nicht das Falsche getan, sondern das Richtige unterlassen”, bilanzierte Soko-Vorsitzender Helfried Haas bei einem Pressegespräch im Justizpalast. Der mittlerweile 22-jährige Täter – er wurde im November von einem Schwurgericht aufgrund seiner hochgradigen paranoiden Schizophrenie als nicht zurechnungsfähig eingestuft und in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen – war im Mai 2008 von Kenia nach Wien gekommen. Im Herbst 2010 trat er erstmals strafrechtlich in Erscheinung, im Juni 2011 wurde er nach dem Suchtmittelgesetz verurteilt. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits obdachlos war, jeglichen Kontakt mit seiner Familie und Behörden verweigerte und schlechte Deutschkenntnisse hatte, wurde in Verbindung mit der über ihn verhängten Bewährungsstrafe keine Bewährungshilfe angeordnet. Die Soko stuft dies als Versäumnis ein und empfiehlt, dass gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in prekären Lebenssituationen von diesem Instrument Gebrauch gemacht wird.

Fall Francis N.: “Keiner hatte den Überblick”

2011 wurde der Mann auch zum ersten Mal in U-Haft genommen. In der Justizanstalt verhielt er sich psychisch auffällig und aggressiv und wurde – wenn auch nur für Vollzugszwecke – untersucht. Schon damals wurde in den medizinischen Unterlagen der Verdacht auf eine wahnhafte Störung festgehalten. Diese Information ging aber weder an die Staatsanwaltschaft noch ans Gericht, weshalb sich für die Justiz die Frage einer möglichen Zurechnungsunfähigkeit, die zur Beiziehung eines psychiatrischen Sachverständigen geführt hätte, nicht stellte. Dafür wurde der Jugendgerichtshilfe die Diagnose bekannt, die diese Information aber nicht dem Gericht meldete. Sie gab sie nur dem Kinder- und Jugendhilfeträger weiter, als der noch minderjährige Kenianer ohne Wohnadresse aus der Haft entlassen wurde.

“Viele Institutionen wussten ein bisschen etwas, keiner hatte den Überblick”, fasste Haas die evidenten Defizite bei der behördlichen Vernetzung zusammen, die dem Ergreifen beziehnungsweise Koordinieren nötiger Maßnahmen im Weg standen. Das Ergebnis der von der Justizanstalt veranlassten psychologischen Untersuchung des Kenianers wurde aus Datenschutzgründen nicht einmal der Chefärztin der Generaldirektion für den Strafvollzug bekannt. Vermeintliche gesetzliche Verschwiegenheitspflichten dürften nicht dazu führen, dass den Justizbehörden relevante diagnostische Informationen vorenthalten werden, hält die Soko in ihrem Abschlussbericht fest. Im Zusammenhang damit tritt Soko-Leiter Haas für “klare legistische Regelungen” ein, “damit Behörden in Zukunft beim Austauschen von Informationen nicht an einer Verletzung des Amtsgeheimnisses oder Berufsgeheimnisses vorbeischrammen”, wie er vor Medienvertretern darlegte.

Vernetzungsprobleme der Behörden

Im Herbst 2013 wurde der Kenianer ein zweites Mal verurteilt, ohne dass ihm ein Bewährungshelfer beigegeben wurde. Dabei wies die Jugendgerichtshilfe diesmal das Gericht explizit darauf hin, dass der Mann “sehr Verwirrendes” von sich gebe. Obwohl eine psychotische Störung laut Soko mittlerweile offensichtlich war, wurde der Kenianer erneut in die Obdachlosigkeit entlassen. Einem Polizeiamtsarzt wiederum fiel der Zustand des jungen Mannes im Zuge einer Untersuchung nicht auf – in seinem Befund war keine Rede von einer möglichen psychischen Erkrankung. Auf Vorschlag der Soko sollen ab kommendem Oktober Polizeiamtsärzte im Erkennen psychischer Auffälligkeiten geschult werden, um auf Betroffene nach dem Unterbringungsgesetz reagieren zu können.

Auch Polizeibeamte, denen im Rahmen ihrer Grundausbildung in sechs bis sieben Stunden das Unterbringungsgesetz nahe gebracht wird, sollen zukünftig umfassender in die ihnen unmittelbar zur Verfügung stehende gesetzliche Handhabe bei Amtshandlungen mit psychisch Kranken eingeweiht werden. Am 18. März 2016 – und damit nur sechs Wochen vor der Bluttat am Brunnenmarkt – war der Kenianer Polizisten aufgefallen, als er sich mit heruntergelassenen Hosen und mit Axt und Hammer bewaffnet vor ihnen zu verstecken versuchte. Gegen den Verhaltensauffälligen wurde nicht nach dem Unterbringungsgesetz, sondern nach dem Fremdenpolizeigesetz vorgegangen.

Spätestens im Frühjahr 2015 hatte sich die Situation weiter zugespitzt, nachdem der Kenianer zwei Frauen mit Eisenstangen angegriffen und die beiden zum Glück nur leicht verletzt hatte. Obwohl bei Gericht gegen den Mann nach im vorangegangenen Herbst begangenen Ladendiebstählen eine weitere Hauptverhandlung anhängig war, war er aus Sicht der Justiz mangels einer Meldeadresse nicht mehr greifbar. Der vermeintlich von der Bildfläche Verschwundene wurde daher zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben. Dass er keineswegs untergetaucht war, sondern am Brunnenmarkt regelmäßig als Störenfried in Erscheinung trat, sprach sich nicht bis zur Justiz durch. Dabei hatte die Polizeiinspektion am Brunnenmarkt – hauptsächlich aufgrund von Anrainerbeschwerden – regelmäßig mit dem Kenianer zu tun.

Witwer-Anwalt: “Erschreckend wie schlecht Behörden vernetzt sind”

Damit es zu vergleichbaren Fällen nicht mehr kommt, fordert die Soko in ihrem Bericht “klare Verantwortlichkeiten ohne Kompetenzvakuum”. Fallkonferenzen von Justiz und Polizei befinden sich im Versuchsstadium, die Sensibilität bei den Justiz- und Polizeiorganen soll sich – schenkt man dem Abschlussbericht der Soko Glauben – mittlerweile erhöht haben.

Für die erschlagene 54-Jährige und ihre Angehörigen kommt das zu spät. “Es ist erschreckend zu erfahren, wie schlecht die Behörden vernetzt sind”, reagierten die Rechtsanwälte Mathias Burger und Alfred Boran, die den Witwer vertreten, auf den Soko-Abschlussbericht. Dass Polizeidienststellen in der Regel gar nicht Kenntnis von Ermittlungen anderer Dienststellen erlangen, “ist in einem modernen Rechtsstaat wie Österreich nicht nachvollziehbar”, gab Burger im Gespräch mit der APA zu bedenken. Burger geht davon aus, dass der laxe behördliche Umgang mit dem paranoid schizophrenen Kenianer kein Einzelfall ist: “Es ist zu befürchten, dass es in diesem Bereich noch viele schlafende Hunde gibt. Man kann nur hoffen, dass die nicht wieder mit einer Gewalttat geweckt werden.”

(APA, Red.)

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