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Europas hausgemachte Asylkrise: Not in Nachbarländern treibt Syrer zur Flucht

Humanitäre Helfer sprechen von "Tragödie mit sehr langer Ansage"
Humanitäre Helfer sprechen von "Tragödie mit sehr langer Ansage" ©AP
Eigentlich wollten sie nahe ihrer geschundenen Heimat ausharren, bis der Krieg in Syrien vorüber ist. Doch nun leiden sie Not und Elend in den Nachbarländern. Hauptgrund: Das Geld, das UN-Organisationen für die Versorgung der Flüchtlinge bekommen, reiche hinten und vorne nicht. Und wird stets weniger. Immer mehr Flüchtlinge sind so gezwungen, die Flucht nach Europa zu riskieren. Humanitäre Helfer sprechen deshalb von einer "Tragödie mit sehr langer Ansage". Einer Krise, die abzusehen war. Und hausgemacht ist.
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In Ländern wie Jordanien oder dem Libanon bekämen Hunderttausende Syrer nicht mehr genug zu essen, beklagte Melissa Fleming, die Sprecherin des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR).Nach Syrien könnten die Menschen wegen des Krieges nicht zurück, und in den benachbarten Aufnahmeländern werde ihre Lage immer schlimmer.

Das Elend als Zahlenwerk und eine absehbare Krise

Im Palais des Nations wird das Elend zum Zahlenwerk. Zweimal pro Woche berichten Hilfsorganisationen in dem Genfer UN-Komplex – einst Hauptsitz des Völkerbundes, der den Zweiten Weltkrieg nicht zu verhindern wusste -, wo überall in der Welt Migranten unterwegs und wie viele auf den Fluchtwegen umgekommen sind.

Es gibt Daten über die Versorgungslage in den Aufnahmeländern. Und es gibt Prognosen über Fluchtbewegungen aus Konfliktgebieten. All das steht im Internet. Jeder Politiker und jede Regierung konnte also schon seit langem eine genaue Vorstellung davon bekommen, dass Europa mit einer gewaltigen Flüchtlingskrise konfrontiert sein würde.

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“Tragödie mit sehr langer Ansage”

Was wir jetzt erleben, sei eine “Tragödie mit sehr langer Ansage”, erklären humanitäre Helfer. Viele fragen sich, warum so viele westliche Länder so spät und oft überhaupt erst reagieren, wenn sie unmittelbar mit Not und Elend konfrontiert werden. Wie bei der Ebola-Epidemie in Westafrika, als größere Hilfsoperationen erst in Gang kamen, nachdem schon unzählige Menschen gestorben waren und sich das Virus nach Europa und in die USA auszubreiten drohte.

Not und Elend in den Aufnahmeländern

Ähnlich träge wie bei der Ebola-Krise reagiert die Politik nach Ansicht von UN-Experten nun auf die Lage der mehr als vier Millionen syrischen Flüchtlinge in den Nachbarstaaten des Bürgerkriegslandes. “Für Hunderttausende verschlechtern sich dort die Lebensbedingungen zusehends”, sagte Melissa Fleming, die Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, der Deutschen Presse-Agentur in Genf.

Hauptgrund: Das Geld, das UN-Organisationen für die Versorgung der Flüchtlinge bekommen, reiche hinten und vorne nicht. Direkte Folge: Die Menschen müssen laut Fleming “jeden Tag einen Kampf für etwas Essen” führen. “Die Flüchtlinge, die jahrelang in den Nachbarländern wohnen, werden immer ärmer und immer verzweifelter”, sagte sie im Westdeutschen Rundfunk.

“Flüchtlingskrise” in Europa: “Im Libanon lachen sie darüber”

Angesichts dessen gebe es in der betroffenen Region kaum Verständnis, wenn Europa wegen des Migrantenzustroms über eine Krise rede. “Im Libanon lachen sie darüber, denn sie haben 1,2 Millionen Syrer aufgenommen – ein Land mit einer Bevölkerungszahl von vier Millionen.”

To understand the sheer scale of the Syrian refugee situation, here’s a picture of a Syrian refugee camp in Jordan. Posted by Huthaifa Shqeirat on Freitag, 4. September 2015

 

Auf den Strich statt in die Schule

Statt zur Schule, wie noch vor einem Jahr, schickten die Flüchtlinge ihre Kinder heute zur Tagelöhnerarbeit auf Feldern, zum Betteln oder gar auf den Strich, berichten UN-Helfer. “Unsere Mitarbeiter vor Ort hören immer wieder: “Ich kann hier nicht überleben, aber zurück nach Syrien kann ich auch nicht. Also werde ich mein Leben aufs Spiel setzen und versuchen, Europa zu erreichen.””

Flüchtlingshilfe: Systematisch unterfinanziert, dramatisch gekürzt

Regelmäßig stimmen UN-Organisationen ihren Finanzbedarf für Notregionen ab, darunter für die Syrien-Flüchtlingshilfe in den Nachbarländern. Jedes Jahr veröffentlicht das UN-Büro für die Koordinierung von Nothilfe (OCHA) einen detaillierten Appell an alle Staaten, die benötigten Milliarden zur Verfügung zu stellen.

Doch seit Jahren kommt stets nur ein Teil zusammen – selbst nach wiederholten, oft flehentlichen Bitten. Das trifft für alle Krisenregionen zu, wie das “Financial Tracking System” (FTS) von OCHA ausweist: Um Notleidenden etwa im Bürgerkriegsland Jemen helfen zu können, baten die Organisationen für 2015 um 1,6 Milliarden Dollar (1,4 Milliarden Euro) – überwiesen oder zumindest zugesagt wurden bisher nur 592 Millionen, ganze 37 Prozent.

Ähnlich hoch der Fehlbetrag im Fall Syriens: 7,4 Milliarden Dollar hatten UN-Hilfsorganisationen insgesamt für 2015 erbeten. Überwiesen oder versprochen wurden für die Nothilfe innerhalb des Landes bislang ebenfalls nur 37 Prozent.Nur wenig besser sieht es bei der Flüchtlingshilfe für Syrer in den Nachbarländern aus – hier sind 41 Prozent der erbetenen 4,5 Milliarden Dollar für 2015 finanziert.

14 Dollar pro Person – pro Monat

Doch auch das reicht bei weitem nicht. Das Welternährungsprogramm (WFP) musste deshalb die Lebensmittelhilfe für 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge in der Region streichen oder dramatisch kürzen. Für 850 000 von ihnen musste das WFP den Wert von Lebensmittelgutscheinen halbieren, im Libanon auf 13,50 Dollar und in Jordanien auf 14 Dollar je Person. Nicht etwa pro Tag – pro Monat.

“Sie müssen von weniger als 50 Cent am Tag leben”

Was das für Menschen bedeutet, die weder Ersparnisse noch Jobs haben, fasst WFP-Sprecherin Bettina Lüscher so zusammen: “Sie müssen von weniger als 50 Cent am Tag leben. Für unsere Mitarbeiter ist es furchtbar, wenn sie einer Mutter, die ihre Kinder ernähren will, sagen müssen: “Wir können nicht besser helfen, denn wir bekommen nicht genug Spenden.”” Eines sei völlig klar: “Die mangelhafte Finanzierung trägt dazu bei, dass Menschen nach Europa weiterziehen.”

Die internationale Gemeinschaft stelle nicht genug Geld für die Versorgung dieser Menschen bereit und sei daher mitverantwortlich für den Anstieg der Flüchtlingszahlen in Europa, bekräftigt auch die Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Melissa Fleming, am Donnerstag im Westdeutschen Rundfunk.

Ginge es nach Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, müssten sie sofort zurückgeschickt werden. Die Migranten kämen ja nicht aus einem Kriegsgebiet, sagte er der “Bild”-Zeitung zur Begründung. “Diese Menschen kommen nicht nach Europa, weil sie Sicherheit suchen, sondern sie wollen ein besseres Leben als in den Lagern.” (APA/red)

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