Die Struktur der afghanischen Gesellschaft beruhe seit Jahrhunderten auf persönlichen Beziehungen, sagte Kissinger. So gut wie jeder führende Politiker wäre überfordert, wenn von ihm verlangt würde, er solle innerhalb von Monaten tief verwurzelte Traditionen beseitigen – und das noch unter dem Druck, dass sich ein Alliierter sofort zurückziehen würde, wenn das nicht gelingt. Darüber hinaus glaubt er nicht, dass sich Washington in die innere Gestaltung der zukünftigen Politik Afghanistans einmischen sollte. Amerika würde riskieren “selbst jene Afghanen gegen uns aufzubringen, die bestimmt keine Anhänger der Taliban sind.”
Andererseits würde ein verfrühter Abzug die Regierungen zahlreicher Staaten mit einer signifikanten islamischen Minderheit schwächen, meint Kissinger. “In Indien würde er als Verzicht Amerikas aufgefasst, den Nahen Osten und Südostasien zu stabilisieren, und in Pakistan käme es zu einer Radikalisierung.” Kissinger fordert stattdessen, dass die militärischen Bemühungen sich auf die Provinzen konzentrieren statt auf die Stützung einer Zentralregierung. “Künstliche Fristen sollten aufgegeben werden.”
Der als Kind jüdischer Eltern in Bayern aufgewachsene und 1938 in die USA emigrierte Kissinger war Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister unter dem republikanischen Präsidenten Richard Nixon und dessen Nachfolger Gerald Ford. Zu seinem Markenzeichen wurde die Geheimdiplomatie mit dem Vorrang der Realpolitik. Er bereitete die Normalisierung der Beziehungen zur Volksrepublik China vor und führte die Geheimverhandlungen mit dem Nordvietnamesen Le Duc Tho über ein Ende des Vietnamkrieges, wofür er den Friedensnobelpreis bekam. Kissinger spielte eine undurchsichtige Rolle unter anderem beim Militärputsch in Chile gegen Salvador Allende und weiteren Umstürzen in Lateinamerika, sowie beim Putsch gegen Erzbischof Makarios auf Zypern, der die türkische Invasion auf der Mittelmeerinsel und deren Teilung nach sich zog.