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"Jedermann": Geglückte Verjüngung

Mit 90 kann man sich heutzutage ohne weiteres mehr als lebenslustiger Senior denn als todgeweihter Greis fühlen. Mancher jedenfalls, nicht jedermann. Dem Salzburger "Jedermann", seit 1920 vor dem Salzburger Dom im unermüdlichen Freiluft-Einsatz, hat eine Blutauffrischung neues Leben geschenkt. Mit dem 39-jährigen Nicholas Ofczarek und der 33-jährigen Birgit Minichmayr ist heuer die jüngste Besetzung der Festspielgeschichte aufgeboten.
Bilder der Fotoprobe
Die Buhlscahft 2002-2010
Video zur Jedermannaufführung

Die gestrige Premiere der auch sonst in vielen Positionen neu besetzten und runderneuerten Inszenierung Christian Stückls, die in ihrer Grundkonzeption aus dem Jahr 2002 stammt, brachte Hugo von Hofmannsthals “Spiel vom Sterben des reichen Mannes” so wahrhaftig über die Rampe wie schon lange nicht.

Ofczarek ist kein mittelalterlicher Lebemann, der mit barocker Hofhaltung fehlenden Lebenssinn zu übertünchen versucht, sondern ein reicher, junger Zyniker, der in Immobiliengeschäften investiert und sich seiner Präpotenz durchaus bewusst ist. So einer darf sich erlauben, beim Anziehen einen Socken zu vergessen oder beim Vorsprechen eines Schuldners auch persönlich hinzulangen. Er hat ein übersteigertes Ego und eine unterschwellige Brutalität, die um die körperliche Unversehrtheit seiner Gefährtinnen fürchten lässt. Austoben und zahlen – Jedermann kann sich’s leisten.

Doch Birgit Minichmayr, in orangerotem Kleid die von der Aufführungstradition offenbar geforderte und Fotostrecken-kompatible ins Auge stechende Erscheinung, ist als Buhlschaft keine Nobelhure, sondern eine eigenständige, selbstbewusste Frau, die den “Buhl und lieben Mann” mit Augenzwinkern herzt und kein Hehl daraus macht, dass sie mit Jedermann zwar eine gewisse Strecke des Lebens gemeinsam mitzugehen gewillt ist, nicht jedoch seinen letzten Weg: “Da sag ich nein!”, sagt sie in größter Schlichtheit – und entschwindet ziemlich unauffällig. Ihr gegenüber ist dieser Jedermann charmant und werbend, hier ist Sex im Spiel, nicht bloß Geld. Aber auch Gefühl: Wenn der reiche Yuppie seine Midlife Crisis bekommt, seine Todesahnungen an die vielen frühen Herzinfarkte seiner Altersgenossen denken lassen, steht sie ihm zur Seite, achtet darauf, dass er sich fängt und vor den Kumpanen nicht sein Gesicht verliert. Die fantasievoll kostümierte (Ausstattung: Marlene Poley), grellbunte Tischgesellschaft ist offenbar direkt vom Life Ball an seine Tafel gewechselt und möchte Spaß, nicht übers Sterben reden.

Allein – es ist zu spät, und Tod und Teufel sind bereits im Spiel. Ben Becker und Peter Jordan haben ihre Darstellungen aus dem Vorjahr verfeinert und kommen in der neuen Konstellation voll zur Geltung. Becker ist ein gravitätischer, ruhiger, Gänsehaut machender Tod, Jordan ein Springteufel zwischen Horrorfilm und schwarzer Komödie. Dass er, mit höllisch glänzendem und auf Jedermann abfärbendem schwarzem Ölfilm überzogen, scheinbar direkt aus dem Golf von Mexiko kommt, gefiel ebenso wie seine Interpretation des guten Gesellen als Spießgeselle Jedermanns. Zu Recht erhielt er neben Ofczarek am Ende dieses erfrischenden Abends, in dem nur Martin Reinke (Gott bzw. Armer Nachbar) und Elisabeth Rath (Jedermanns Mutter) mit zu langatmigen Passagen für ein paar Durchhänger sorgten, den meisten Applaus.

Während sich die Neubesetzungen des Mammons (Sascha Oskar Weis), des Dicken Vetters (Felix Vörtler), des Schuldknechts (Robin Sondermann) oder des Kochs (Robert Reinagl) unauffällig ins Geschehen einfügen, gibt die junge Angelika Richter den “Guten Werken” nicht nur ein völlig neues Gesicht, sondern auch eine erfrischende, schlichte, zu Herzen gehende Gestalt. Dass ihr slapstickartiges Duell mit dem Teufel, gegen dessen schlechten Schwefelatem sie chancenlos ist, für Lacher sorgen kann, kurz darauf aber das schlichte Sterben Jedermanns Totenstille auf dem Domplatz verursacht, zeigt die große Bandbreite und Qualität der Aufführung, deren Atout jedoch eindeutig Nicholas Ofczarek ist. Er fügt sich nahtlos in die Reihe seiner großen Vorgänger ein. In seiner egomanischen Lebenslust ist er absolut heutig, in seiner Todesangst glaubhaft und in seiner Läuterung unpeinlich. Wie sehr die Erlösung ihm auch Erleichterung ist, hat man selten so eindringlich gesehen.

Erstmals seit langem sehnt man sich keine Neuinszenierung herbei. Dieser “Jedermann” darf lange bleiben. Ob allerdings die gelungene Lichtregie, der hübsche Buhlschaft-Auftritt im Silberfolien-Regen, der intensive Einsatz der Pyrotechnik auch am sonnendurchfluteten Domplatz entsprechend zur Geltung kommen, wird man nach dieser Abend-Premiere erst bei der Nachmittags-Vorstellung am kommenden Sonntag sehen. Vorausgesetzt das Wetter spielt mit.

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