Rhythmus und dramatische Musik sind das Ergebnis
Handlung im erzählerischen Sinn gibt es keine, daher ist dieser “Dionysos” eher ein Oratorium als eine Oper. Das stört nicht weiter, denn die Reise durch die seelischen Befindlichkeiten von Rihms Hauptfigur N. hat Ziel und Dynamik. Friedrich Nietzsche ist als Bühnenrolle komplex und zugleich eindringlich konstruiert: Auf der Suche nach Liebe wird seine Seele zermalmt zwischen Selbsterkenntnis und Selbstzerstörung.
“Zwischen zwei Nichtsen eingeklemmt” schreibt Nietzsche selbst in seinen “Dionysos-Dithyramben”, und Rihm legt dem Autor seine eigenen Worte zurück in den Mund. Damit macht er den Detektiv zum Täter, das Raubtier zum Gejagten, dem “die Beute in sich selbst gebohrt” ist. Gänzlich längenfrei ist da ein atmosphärisch außergewöhnlich dichtes Musiktheater entstanden, das an große Bühnentraditionen anknüpft, ohne geschmäcklerisch in die Operngeschichte zu schielen. Die Opernhäuser von Amsterdam und Berlin, wohin die Produktion nach den Salzburger Festspielen reisen wird, haben aufs richtige Pferd gesetzt.
Ein Pferd bringt die Erlösung
Dramatisch-packend unter die Haut geht dieser dionysisch-apollinische Nietzsche dennoch nur passagenweise. Zum Beispiel wenn die Videos von Martin Eidenberger auf den Zerrissenen herabsinken wie ein Regen von Bildern. Oder wenn Regisseur Pierre Audi, der sich nach seinem “Zauberflöten”-Flop aus dem Jahr 2006 als kooperativ-geschmackvoller Bühnenordner erweist, die nuttig-süßen Nymphen in Latex und Strapsen (Kostüme: Jorge Jara) mit der Marionette von “Ein Gast” tanzen lässt. Allerdings erschließt sich diese Männer-Figur nur schemenhaft, so wie auch der Chor von schwarz-weißen “Nietzsche total”-Predigern oder den intergalaktischen Titten- und Vagina-Zombies, die eher auf die Feuchtträume von Bühnenbildner Jonathan Meese verwiesen als auf Nietzsches Angst vor sexueller Hingabe.
Trotzdem: Jonathan Meeses krasses, bübisch-verspieltes Bühnendesign hat Pep. Die Grobe-Pinselstrich-Ästhetik des hoch gehandelten deutschen Malers hat diesem “Dionysos” seinen Stempel aufgedrückt und darüber hinaus so manchen Schmunzler ausgelöst. Etwa durch die grandiose Geschmacklosigkeit eines überdimensionalen Plastik-Blitzes oder mit einem Felsen als Ruderboot – wohl eine merkwürdige Mischung und doch passend für Nietzsche, der Lust und Gedanken, Trieb und Ordnung zur gleichen Zeit einfach nicht ertragen konnte.
Einen idealen Mitstreiter fanden Rihm, Audi und Meese in Ingo Metzmacher, der sich wie schon im Festspielsommer 2009 mit einer Oper von Nono als Meister im Formen modernen Musiktheaters erwies. Auch wenn ihm sein Deutsches Symphonie-Orchester Berlin nicht immer detailgenau folgte, so wirkte Metzmacher dennoch als sichere Bank, als stabiler Faktor im Orchestergraben, der für perfekte Klangbalance sorgte, umsichtig Einsätze verteilte, groß aufspielen ließ und einbremste, die Solisten und die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor auf Händen trug und für eine verblüffend gute Sprachverständlichkeit sorgte.
Zentrale Bühnenfigur war Johannes Martin Kränzle, der mit ausgewogenem Bariton keine Schwächen hören ließ, sich gut bewegte, nicht pseudodramatisch übertrieb und am Ende verdientermaßen den größten Applaus einfuhr. Knapp dahinter Mojca Erdmann, die in ihrer kleineren Rolle als Ariadne von Rihm in phänomenal hohe Lagen geschickt wurde, die sie klangschön und intonationssauber bewältigte. Matthias Klink als “Ein Gast” und “Apollon” überzeugte mit klarem Tenor, und auch das Damentrio Elin Rombo, Virpi Räisänen, Julia Faylenbogen passte in das gute Solistenensemble und hatte Anteil am Opern-Volltreffer in Salzburg.